Im Sechs-Minuten-Takt

Rhythmus ist das halbe Leben: Einmal in der Woche lädt der Kabarettist Arnulf Rating ins Tempodrom zu seinem „Blauen Montag“. Mit Hilfe seiner Gäste versucht er sich an einer lebenden Stadtzeitung

Die Krawatte hat er abgelegt. Dienst ist Dienst, und jetzt ist Feierabend. Arnulf Rating lehnt gelassen, vielleicht auch ein bisschen erschöpft am Tresen des „Möckernstübl“ und hält sich an einem großen Glas Mineralwasser fest. Fast drei Stunden Moderation liegen hinter ihm. Wieder einmal ist ein „Blauer Montag“ absolviert, und wie immer feiert das Publikum beim Finale die Riesenmeute der Mitwirkenden, die sich zum Schlussbild noch einmal auf der Bühne versammelt haben. Seit Januar wird in der Kleinen Arena des Neuen Tempodroms der Montag blaugemacht, angeleitet von Rating, dem altbewährten Kabarettisten. Heute hat die Show etwas länger als geplant gedauert. „Da muss ich mal wieder mehr mit der Peitsche ran“, sagt Rating trocken, ohne auch nur ein bisschen die Mundwinkel zu heben.

In diesem Fall galt die Peitsche dem Zauberer André Hieronymus. Wie allen Künstlern standen auch ihm an diesem letzten Montag in der Show sechs Minuten zu. Der selbst ernannte preußische Entertainer, der sein Publikum mehr durch seine im Kasernenhofton angekündigten Tricks zum Lachen bringt denn durch die magischen Handlungen, überzog ordentlich. „So was zerstört den Rhythmus der Show“, sagt Rating kritisch. Schließlich ist dieser Rhythmus einer der wichtigsten Wesenszüge des „Blauen Montags“, an dem sich Künstler unterschiedlichster Art auf der Bühne schnell abwechseln sollen. Chansonniers und Surfpoeten, Breakdancer und Jongleure, Kabarettisten und Comedians. Manchmal auch Männer, die auf leeren Bierflaschen „Dont Worry Be Happy“ blasen.

Herr über diesen illustren Haufen ist der 52 Jahre alte Rating. Der hält sich als Moderator dezent zurück und überlässt die Show den anderen. Lediglich zur Begrüßung wechselt er in seinen angestammten Beruf als Kabarettist und zieht mit einer Hand voll Sätzen die Bilanz der letzten Woche. Einen satirischen Komiker bezeichnete ihn kürzlich die Jury des Deutschen Kleinkunstpreises und ehrte ihn als besten Kabarettisten des Jahres: Für sein „Hochgeschwindigkeitskabarett von heute, aber im Ton wie auf dem Rummelplatz der Sponti-Clowns von damals“.

Die Zeiten des Sponti-Clowns Rating liegen in den wilden Achtzigern Westberlins. Da war er Teil der legendären „Drei Tornados“, einer anarchischen Kabarettgruppe, in der aber auch noch ganz andere Kräfte schlummerten. Ehe sich das Trio versah, hatte es – angestoßen durch ihren Tornado Holger Klotzbach – aus dem still gelegten Quartier Latin ein Varieté-Theater gemacht, den heutigen Wintergarten. Und schon damals gab es einen „Blauen Montag“. „Wir wollten die Varieté-Tradition von einst mit neuen Inhalten füllen“, erzählt Rating. Das ist ihm damals im „Quartier“ gelungen, und das gelingt ihm auch heute im Tempodrom.

Eine „lebende Stadtzeitung“ nennt er das, was er heute allwöchentlich mit einem kleinen Team auf die Bühne bringt. Früher hätte man vielleicht „Bunter Abend“ dazu gesagt, sicher ist aber: Es ist in dieser Form einmalig in Deutschland. Wo andernorts in vergleichbaren Shows vor allem junge Nachwuchskräfte ausprobiert werden, setzt man beim „Blauen Montag“ in erster Linie auf Profis. Die Liste der bisherigen Gäste ist entsprechend lang und exklusiv: Martin Buchholz und Mathias Bröckers, Gabi Decker und der Blonde Emil, Josef Hader, Wiglaf Droste, Jess Jochimsen und Malediva, Wladimir Kaminer und Thomas Kapielski. Und wo sich andere mit vier oder fünf verschiedenen Acts begnügen, wartet man am Anhalter Bahnhof jede Woche mit einem guten Dutzend Künstlern auf, inklusive eines eigens eingeflogenen Stand-up-Comedians aus England.

Jeden Monat widmet man sich als Leitthema einem anderen Berliner Stadtbezirk. Im Oktober war dem Wedding diese Ehre gegönnt. Wahrscheinlich weil der Wedding keine so richtig schöne Hymne hat, musste Hinark Husen von Dr. Seltsams Frühschoppen eben mal schnell eine schreiben und die Hundescheiße und die Liebe zum Alkohol in seinem Bezirk betexten. Und während Bianca Castafiore ehrfürchtig diese Zeilen singt, hisst Rating die Weddinger Fahne. Ein bisschen Ritual muss sein, auch an einem „Blauen Montag“.

So ist diese Revue nicht ganz zufällig stets auch eine Momentaufnahme des Berliner Großstadtdschungels: Künstler, die gerade in Berlin weilen, kommen, um für ihre Gastspiele zu werben. Und die anderen, weil ihnen der Auftritt in diesem illustren Rahmen sichtlich Spaß macht. „Hohe Gagen können wir nicht zahlen, deshalb sorgen wir dafür, dass das Catering erstklassig ist und die Künstler bei Laune hält.“ Auch dieser Satz kommt bei Rating knochentrocken mit dem Tonfall eines knallharten Geschäftsmannes.

Der muss er auch sein, denn noch rechnet sich der „Blaue Montag“ nicht. Senatsgelder gibt es nicht, lediglich einige Sponsoren. Rating selbst macht das Ganze für lau. „Mein Geld muss ich mit meinen Kabarettauftritten verdienen.“ Der hohe Aufwand verursacht hohe Kosten, und nicht jeden Montag sind sämtliche Plätze verkauft. Der andernorts spielfreie Tag ist beim Publikum schwerer durchzusetzen als erwartet, zudem hat das neue Tempodrom nicht bei allen das beste Image – es „liegt nun mal nicht gerade an einer Flaniermeile“. Ans Hinschmeißen denkt Arnulf Rating deshalb aber noch lange nicht. Immerhin gehört er zu den Mitbegründern des alten Tempodroms. Und so etwas bindet.

Axel Schock

© die tageszeitung, 03.11.2003